Was gilt überhaupt als Sex? Das fragt sich Kulturwissenschafterin Beate Absalon in ihrem neuen Buch.
Was gilt überhaupt als Sex? Das fragt sichKulturwissenschafterin Beate Absalon in ihrem neuen Buch.
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Ronnie, ich denke, du bist nur wegen der Seilrutsche hier", enttarnt die Bachelorette der Datingshow Summer Loving einen der Kandidaten. Während alle anderen Männer mit ihren Sixpacks und Verführungskünsten um die Gunst der attraktiven Junggesellin buhlen, scheint Ronnies einziges Begehr darin zu liegen, sich möglichst oft mit der Seilrutsche in den Pool der Villa zu schwingen. Die Elimination würde sein Herz brechen. Ronnie und die Zipline, das ist die wahre Romanze des Sommers.

Zu schön, um wahr zu sein. Die Szene ist in Wirklichkeit ein Sketch aus der Comedy-Sendung I Think You Should Leave und verpasst den Begehrensstrukturen von Reality-TV-Sendungen einen Knick. Sonst dreht sich in ihnen alles um das hochgeschaukelte Drama von Paarungswilligen, die bei ihrer Traumpartnersuche viel rummachen, eifersüchtig werden, Rivalitäten auskämpfen. Entscheidendes Kriterium: Sex-Appeal. Doch warum sollte gerade der die höchste Anziehungskraft haben? Warum nicht eine ebensolche Obsession hegen für die Seilrutsche samt vergnüglichem Platscher ins kühle Nass? Wie unverschämt, den Sex nicht so wichtig zu nehmen. Wie unanständig, ihm seine Strahlkraft streitig zu machen. Wie queer, etwas anderes noch anziehender zu finden. Der Sketch wirkt auf mich wie Eukalyptusbalsam. Erfrischt atme ich auf. Anscheinend liegen mir die banalen Hyperinszenierungen von der Alleinherrschaft des Sex schwer auf der Brust. Die Parodie pustet das frei, indem sie so herrlich irritierend mit dem Erwarteten bricht. Und sie erwärmt auch mein Herz und spendet Trost.

So geizig, der Sex

Ronnie, ich fühl’s! Seilrutschen sind geil. Und von genau dieser anarchischen Lust will ich mehr sehen. Mehr Bilder, mit denen dem Big Player Sex Konkurrenz gemacht wird, unbeeindruckt von seinem mächtigen Gravitationsfeld, das sonst immer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. So geizig, der Sex. Dabei wird über die Lust doch genau das Gegenteil gesagt, dass sie richtungslos wuchere und schäume, mit allem und allen was am Laufen habe. Wo sind ihre Spendierhosen hin?

Ich mache mich auf die Suche. Mit Ronnies libidinöser Besetzung der Seilrutsche beginnt meine Sammlung seltener medialer Bilder, mit denen sich ein solcher Sturm auf die Bastille und eine Demokratisierung der Gelüste ausmalen lässt. Bilder der Gehorsamsverweigerung, bei der scheinbar folgerichtigen Aktionsketten sexueller Verlaufsformen nicht gefolgt wird. Denn in der abgelatschten Ordnung des Sex steht alles immer schon fest: Lernen sich zwei kennen, läuft es unweigerlich auf was sonst als Übereinanderherfallen hinaus, und ebenso klar ist die Hölle los, wenn einer es aber mit wem anderen macht, vor allem, wenn dabei ein Penis in einer Vagina landet, denn das ist die alles entscheidende Königsdisziplin, deren Fehlen untrügliches Zeichen einer dem Untergang geweihten Beziehung ist.

Wer auch immer diese Gesetze festgelegt hat, kaum jemand bringt ihre Absurdität besser auf den Punkt als die Dragqueens Trixie Mattel und Katya, deren Job darin besteht, Datingshows zu kommentieren. Bereits Fremdküssen gleicht da einer nationalen Krise. Dabei müssten die Skandale eher so klingen: "Du hast seine Wäsche gemacht?!", "Du hast sie zum Flughafen gefahren?!" Drücken nicht eher solche Handlungen wahre Intimität und Verbindlichkeit aus? "Okay, du hast mein Haus abgefackelt – das ist verzeihlich. Aber eine andere Frau küssen? Ich will dich nie wieder sehen!", gaukeln sie weiter.

Heteronormative Kultur

Liegt das Problem mal wieder an der ganzen Misere unserer heteronormativen Kultur? Mein Appetit nach anderen Bildern führt mich zu LGBTQ-Erotica, mit ihrer wohltuenden Vielfalt an Geschlechterkonstellationen, Körperformen und sexuellen Spielarten. Doch stillen auch die queeren Inszenierungen meinen Hunger nicht. Denn es geht mir nicht um Variationen, ob nun boy meets girl, girl meets girl oder polycule meets nonbinary unicorn. Solange sich auch hier nur in neuem Gewand der Platzhirsch Sex breitmacht, interessiert mich das nicht. Es geht mir um Grundlegenderes: um die Dezentralisierung des Sex im intimen Miteinander. Wie kann diese gelingen?

Eher zufällig stolpere ich über die Fundstücke, die es mir angetan haben und in meinem kontrasexuellen Archiv landen. Hier ein ausführlicher Einblick in die Vielgestaltigkeit meiner liebsten Exemplare: Clips aus Amateurpornografie, in denen das Liebesspiel unterbrochen wird, weil etwas getrunken werden muss, die beiden kurz miteinander abchecken, wie es ihnen geht, dann aber in ihrer Unterhaltung abschweifen und vergessen, worum es hier "eigentlich" geht – und dann nur noch zärtlich plauschend im Bett liegen, zu faul, die Kamera auszuschalten. Dazu passt der Ansatz von Andy Warhol, der einmal sagte, dass Sex im Bett nicht schlecht sei, aber: "Unter der Bettdecke liegen und Witze reißen ist das Beste. ,Wie es für mich war? Gut, du warst heute Abend wirklich umwerfend lustig!‘ Wenn ich heute noch zu einer Dame ginge, würde ich sie wahrscheinlich dafür bezahlen, mir Witze zu erzählen."

Auch viele Tiktok-Funde habe ich gesammelt. Videos, in denen die Ausführung einer Influencerin, die gerade ansetzt zu sagen: "Das solltest du tun, wenn du mit einer Frau intim werden möchtest", unterbrochen wird mit einem simplen "Nein, danke", und darauf folgen dann begeisterte Erklärungen zu einem ganz anderen, meist nerdigen Thema wie dem Aufbau eines Flugzeugs.

Beate Absalon
Wo sind bitte die Spendierhosen der Lust geblieben? Das fragt sich Autorin Beate Absalon.
Maria Leibnitz

Bitte alles hinterfragen

In einem meiner liebsten Videos spielen zwei Musiker George Michaels Pop-Ballade Careless Whisper – bekannt für das passionierte Saxofonsolo –, nur dass der Keyboarder die Grundmelodie spielt, während der Saxofonist regungslos danebensteht. Verfolgt man, wofür dieser Sound von anderen Tiktokern verwendet wird, fällt auf, dass die Sax-Abwesenheit des Songs wunderbar Anekdoten der Sex-Abwesenheit untermalt. Asexuelle Personen illustrieren damit, wie sich Sex für sie anfühlt, was sie beim Schauen einer heißen Filmszene (nicht) empfinden oder warum sie beim Mädelsabend nicht verstehen, was das aufgeregte Reden über Datingdetails soll. Auffällig sind dazwischen immer wieder Uservideos, die den Witz irgendwie nicht verstehen und den Song als Einladung zu Karaoke auffassen, weil sie selber das Saxofon dazu spielen. Als könne die Lücke nicht für sich stehen, als müsse sie sogleich gefüllt werden.

Wir sind alle sexuelle Wesen, die Sex haben, die ihn wollen und die ihn auch haben und wollen sollten, sonst stimmt etwas nicht mit uns. Diesen Satz zu hinterfragen, das ist das Interesse dieses Buchs. Weil er zu mehr Frust als Lust führt, will ich nach Auswegen suchen. Will das Thema entkrampfen und Druck rausnehmen. Will mich nicht nur für die Freiheit einsetzen, sich sexuell ausleben zu können, wenn man das denn möchte, sondern auch für die Freiheit, keinen Bock haben zu dürfen. Will verstehen, wie es dazu kam, dass Sex zu einer schier unumgänglichen Selbstverständlichkeit wurde, der eine so große Bedeutung beigemessen wird. Warum wird darum so viel Aufhebens gemacht? Wen interessiert das? Wer profitiert davon? Es wird so getan, als würde ohne Sex etwas Wichtiges fehlen und ein Vakuum entstehen. Doch aus meinen Fundstücken, die sexy sind, aber den Sex ins Off verweisen, sprudelt mir statt gähnender Leere eine ganz eigene Fülle entgegen. (...)

Nicht normal funktionieren müssen. Den Anspruch der Fehlerfreiheit als Fehler enttarnen. Gesellschaftliche Vorgaben hinterfragen und entgiften. Ihr schimpft uns prüde? Dann gründen wir den Club der Proud Prudes, als die wir uns leidenschaftlich für solidarisches Miteinander einsetzen und unsere Unabhängigkeit vom sexuellen Belohnungs- und Bestätigungssystem genauso genießen wie die Gemütlichkeit unserer leicht ausgeleierten, niemals wie Dessous zwickenden Baumwollunterhosen. Danke, nein, uns geht es hier im Abseits ganz gut. (...)

Utopischer Entwurf

Für mich ist diese Perspektive wegweisend in Richtung eines utopischen Entwurfs sexueller Freiheit. In den vielen Aufbruchsbewegungen für größeren sexuellen Wohlstand fehlt mir die Aufmerksamkeit für die vermeintliche Kehrseite des Sexuellen. Wir halten zu sehr an den konventionellen Auffassungen eines guten Lebens fest, in denen Sex als ein Projekt behandelt wird, das sich so lange bearbeiten lässt, bis es endlich gelingt und erfüllt ist – und einem in dem Zuge das Gefühl gibt, auch selber gelingend und erfüllt zu sein.

Deswegen lautet die Hypothese meines Vorhabens: Das Leiden an Sex werden wir nicht los, indem wir Sex meistern, sondern indem wir lernen, an Sex zu scheitern. An dem Sex, der als unabdingbares Erfordernis gilt. An dem unser Wert gemessen und unsere Identität festgelegt wird. Der vor Bedeutung nur so trieft. Der unsere Aufmerksamkeitsressourcen zieht, uns mit anderen vergleichen und in einer Optimierungsschleife verfangen lässt. Kein großer Verlust, wenn da die Lust flöten geht. Und dann wage ich auch vorzuschlagen: Wenn es eh nicht klappt, kein Verlangen da ist oder der Penis zu schlaff – then that’s the way to go! Alles gut. (...)

Körper und Sex machen nicht immer, was von ihnen verlangt wird. Was, wenn wir auf ihre Widerspenstigkeiten einen zwar nicht beschönigenden, aber schonenden Blick werfen? Vielleicht sind sie auf unserer Seite? Vielleicht wollen sie uns etwas mitteilen? Vielleicht lehnen sie sich für uns gegen etwas auf? Vielleicht geraten wir dank ihnen neben die erstrebte Spur und damit in interessante Gefilde? (...)

Feigenblatt auf Genital
Weniger ist mehr? Über Lust wird heute gern gesagt, dass sie geradezu richtungslos wuchere und schäume.
IMAGO/Zoonar

Einladung zur Inventur

Unser Sex. Womit haben wir es da eigentlich zu tun? Los geht’s mit einer Bestandsaufnahme und einigen Grundsatzfragen. Wer möchte, greife zu Stift, Papier und Wecker und fühle sich eingeladen zu einer Runde Journaling, auch Automatisches Schreiben genannt.

Drei Fragen werden beantwortet, ohne vorher über die Antwort nachzudenken. Es geht um das Verfertigen der Gedanken beim Schreiben, in einem ununterbrochenen Schreibfluss. Den ersten Impulsen wird sogleich gefolgt. Der Wecker wird auf fünf Minuten Schreibzeit pro Frage gestellt. Fertig? Dann geht es los mit der ersten Frage, die spontan schreibend beantwortet wird. Die Zeit läuft ab jetzt!

Eventuell hat man sich konkretere Hinweise gewünscht. Zählen zur ersten Frage Masturbieren, Sexting, Petting, Fantasien dazu? Hat die Person in der zweiten Frage nur derzeit oder nie Lust? Handelt es sich dabei um einen Mann oder eine Frau, jemand Junges oder Altes, jemand Attraktives (und warum würde das einen Unterschied machen?)? Verzichtet sie freiwillig oder unfreiwillig (wie eindeutig lässt sich das eigentlich unterscheiden?)? Was sind die Gründe ihres Desinteresses: zu viel Stress, religiöse Vorgaben, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, Asexualität oder überholte Moralvorstellungen? Hat sie einfach schon alles erlebt – been there, done that –, und das Ganze hat sich ausgesext? Hat sie unsere übersexualisierte Kultur satt? Weigert sie sich aus Rachegründen und nutzt Sexentzug als Strafe? Oder will sie sich den Anstrengungen des Sex nicht stellen: empathisch auf Bedürfnisse eingehen, eigene Wünsche und Grenzen kommunizieren, körperliche Fitness, mutiges Ausprobieren potenziell ekliger Sachen, sich verletzlich machen und auch noch das Risiko der Blamage eingehen? Sagt sie das nur so, aus Enttäuschung, wie ein nicht eingeladenes Kind? "Auf deine blöde Party will ich eh nicht!" Und was die dritte Frage angeht: Über welchen Sex soll ich mich auslassen? Meinen privaten Sex oder Sex im Allgemeinen, den gesellschaftlichen Umgang damit?

Die Offenheit ist bewusst gewählt, um (...) zu jenen Momenten zu lotsen, in welchen das auf der Hand Liegende anfängt, rätselhaft zu werden. Wir geraten gemeinsam ins Wundern, drehen und wenden die Sache, betrachten sie mal von der einen und dann von der anderen Seite. Meist wird dann bewusst, was man irgendwie weiß, aber gern vergisst: Was für mich selbstverständlich ist, ist an veränderbare Bedingungen geknüpft – und könnte auch ganz anders sein. Oft erscheint Sex wie eine natürliche Sache, als spiele er für alle Menschen schon immer die gleiche Rolle, sei vielleicht mal mehr unterdrückt und mal mehr ausgelebt und deswegen entweder gezähmt oder befreit worden – darunter aber das stets gleiche, lustspendende Lebenselixier geblieben, das uns ausmache und um das deswegen so vieles kreise.

Woher kommt mein Sex?

Dieses Sexverständnis ist jedoch eine moderne Erfindung, die Sexualhistoriker*innen auf gesellschaftliche Umbrüche des 19. Jahrhunderts zurückführen. Die Autorin Bini Adamczak bringt die Logik solcher scheinbar universellen Gültigkeiten treffend auf den Punkt: Es ist "eine uns bekannte kapitalistische Ideologie", die uns weismachen will: "So, wie es heute um uns bestellt ist, war es immer um uns bestellt. Alles war immer schon so, wie es gerade heute ist", als wäre "die Vergangenheit nach der Gegenwart geformt".

Aus welchen kulturellen und politischen Umständen resultiert mein Verständnis von Sex? Wie strukturieren diese Umstände meine alltägliche Wahrnehmung davon, was Sex bedeutet, welchen Stellenwert er in meinem Leben hat, was überhaupt als Sex gilt und wer auf welche Weise sexuell zu sein hat? Folge ich meinem Begehren oder auferlegten Schnittmustern des Begehrens? Passen sie mir?

Das Befragen lässt sich mit dem Ausmisten des angesammelten Hausrats vergleichen, bei dem man sich einen Überblick verschafft, ordnet und aussortiert. Einiges ist sentimental besetzt oder es sind Geschenke, die man sich nicht wegzugeben traut. Manches ist marode oder steht im Weg herum, aber man hat sich irgendwie daran angepasst. Und dann sind da die Sachen, die als angesagter Trend bei einem gelandet sind, aber mit denen man nichts anzufangen weiß.

Album Cover
Beate Absalon, "Not giving a fuck". € 24,– / 192 Seiten. Verlag Kremayr & Scheriau, 2024
K&S

"Bringt es mir Freude?"

Aufräumexpertin Marie Kondo empfiehlt ja bekanntermaßen, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und sich dabei die Frage zu stellen: "Bringt es mir Freude?" Das ist ein guter Start, aber konsumbewussten Ausrümpler*innen ist diese Methode nicht nachhaltig genug, weil es gerade der Funken Freude ist, der mich den Kram überhaupt erst hat besorgen lassen. Das Ganze ist zur baldigen Wiederholung verdammt, wenn ich meine Konsumkultur nicht grundlegend überdenke. Warum habe ich mir diese Sache zugelegt? Welche Verkaufsstrategien haben mich gekriegt? Ist es diese Sache, die ich brauche – oder will ich eher das, was sie repräsentiert?

Inventur heißt übersetzt "etwas finden". Vier Fundstücke möchte ich vorstellen, die in meinen Workshop-Gesprächen über unsere Beweggründe für oder wider Sex auffällig sind, weil sie sexuelle Normen aufzeigen, die unterschwellig eine starke Wirkung entfalten, aber bei genauerer Betrachtung nicht wünschenswert sind. Sie betreffen alle drei Fragen der Schreibübung, da sie: 1) zum Sex motivieren, 2) Sexlosigkeit oder Desinteresse an Sex zu einer Auffälligkeit machen, aber 3) gleichzeitig Sex ungenießbar machen. Diese vier Mechanismen werde ich beschreiben als

All diese Aspekte überschneiden sich, weswegen ich sie in ihrer Verflochtenheit an einigen Beispielen verdeutlichen möchte, ohne sie in trennscharfen Unterkapiteln auseinanderzuhalten. Dabei möchte ich nicht nur missmutig Probleme diagnostizieren, sondern immer wieder auch auf lustvolle Alternativen hinweisen, indem der Entrümpelungstipp auf den Sex angewandt wird: Weil nicht festgelegt ist, warum wir Sex haben (sollten), ermöglicht die Bewusstwerdung über die Beweggründe und ihre kulturellen Einschreibungen, seinen sexuellen Hausrat so auszumisten und zu renovieren, dass er mit mehr Integrität bewohnbar wird und ein gutes Zusammenleben ermöglicht. (Beate Absalon, 13.5.2024)