Verhandlung für dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stärkt Klimaklägerinnen und Klimakläger den Rücken. Er kann aber eine demokratische Entscheidungsfindung nicht ersetzen.
AFP/FREDERICK FLORIN

Im Gastbeitrag analysiert Universitätsprofessor und Rechtsanwalt Wilhelm Bergthaler das Klimaschutz-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).

Der Jubel der Aktivistinnen über das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist verständlich. Nicht nur jener der siegreichen Schweizer Seniorinnen, sondern der aller, die seit Jahren für einen stärkeren Klima-Rechtsschutz eintreten. Eine der zentralen Forderungen, ein Grundrecht auf Klimaschutz, ist errungen, ohne dass die Verfassungsgesetzgeber aktiv werden mussten. Der EGMR hat es aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, abgeleitet. So weit, so gut, so erwartet.

Spannend ist, welche Verfahrensgarantien der Gerichtshof mit diesem Grundrecht verbindet. Das Urteil gegen die Schweiz beschränkt sich zwar, vereinfacht gesagt, auf einen Schuldspruch ohne Strafe (Schadenersatz für Klimaschäden wurde nicht geltend gemacht). Aber in der Begründung lässt der Gerichtshof erkennen, wie weit er selbst – als "Klimagerichtshof" – bereit ist, über die Staaten zu urteilen, und ab welchem Punkt er das Feld der Politik überlässt.

Zunächst betont er die Pflicht der Staaten, Klimaschutz nicht nur zu proklamieren, sondern mit messbaren Reduktionszielen und Terminen voranzutreiben und dafür geeignete Maßnahmen zu setzen. Welche Maßnahmen dies sind, überlässt er den Staaten. Das wirft unweigerlich die Frage auf, worauf nun geklagt werden kann. Die (bloße) Feststellung, dass ein Staat seine Klimaschutzpflicht verletzt hat, mag ein Prozesserfolg sein, führt aber weder zu schärferen Zielen noch zu konkreten Maßnahmen – vor allem wenn es an parlamentarischen Mehrheiten fehlt oder (wie im Fall der Schweiz) Volksabstimmungen gescheitert sind.

Demokratiepolitisch heikel

Hier betritt der Gerichtshof das heikle Terrain der Gewaltenteilung: Er anerkennt, dass er politische Entscheidungen, die in einem demokratischen Prozess getroffen werden, nicht an Verfahrensgrundrechten messen kann. Allerdings müssen, so der Gerichtshof, zur Prüfung der Effektivität der Klimaschutzmaßnahmen Rechtswege vor Gerichten eröffnet werden – und zwar für all jene, deren Schutz bedroht ist. Das sind neben den gefährdeten Personen auch Non-Profit-Vereinigungen, die menschenrechtliche Schutzinteressen ihrer Mitglieder oder betroffener Personen vertreten. Voraussetzung ihrer Klageberechtigung ist eine gewisse Repräsentativität und Transparenz.

Im Ergebnis ist damit auf den ersten Blick wenig gewonnen, denn solche Klimaklagen drehen sich wieder nur um die Frage: Hat der Staat genug getan? Sie zielen auf eine (negative) Beurteilung unzureichender staatlicher Maßnahmen, erzwingen aber keine besseren. An diesem Punkt setzt die abweichende Meinung des Richters Tim Eike an: Er befürchtet, dass die kommenden Klimaklagen zwar die Behörden und Gerichte beschäftigen – allerdings nicht mit konkreten Klimaschutzmaßnahmen, sondern mit dem Streit über Versäumnisse der Klimapolitik. Und diese Politik wird sich nicht ändern, solange die Änderung nicht mehrheitsfähig ist.

Das Argument des EGMR zur Schweizer Volksabstimmung, das Volk habe nicht gegen den Klimaschutz gestimmt, sondern nur gegen die beabsichtigten Maßnahmen, sodass die Schweiz eben andere Maßnahmen hätte ergreifen müssen, tönt ausgesprochen hohl. Der Gerichtshof redet sich die öffentliche Meinungslage schön und postuliert einen Gestaltungsspielraum, den die Politik nicht ohne weiteres hat. Auch Klimapolitik braucht Mehrheiten und muss sie in der demokratischen Auseinandersetzung gewinnen. Andernfalls droht ein Szenario, in dem weitere Klimaklagen zwar siegreich sein werden, aber ohne konkrete Folgen bleiben. Ist also gegen die Untätigkeit der Gesetzgeber weiterhin kein Kraut gewachsen?

Schubkraft für Energiewende

Das Bild ändert sich, wenn sich die Klagen nicht auf (erwünschte) Maßnahmen richten, die zum Klimaschutz noch fehlen, sondern gegen bestehende Regelungen, die Klimaschutzmaßnahmen blockieren. Damit können gesetzliche Blockaden ins Visier genommen und überwunden werden, die der Energiewende entgegenstehen. Zudem können Verfahrensschritte bekämpft werden, mit denen die Erzeugung erneuerbarer Energien beschränkt wird. Das EU-Recht der Energiewende, vor allem die Erneuerbare-Energie-Richtlinie der EU (RED III), erhält durch das Klima-Menschenrecht zusätzliche Schubkraft. Die Klimaschutzinitiative von Michaela Krömer, "Claw", führt bereits ein Verfahren gegen Beschränkungen des Photovoltaik-Ausbaus. Weitere Prozesse bahnen sich im Bereich der Wasserkraft an, wenn etwa der Kraftwerksbetrieb durch Vorschreibungen der Wasserrechtsbehörden nachträglich gedrosselt werden soll.

Dagegen kann eine neue Generation von Klimaklagen mit Aussicht auf Erfolg ankämpfen und Projekte der Energiewende effektiv durchsetzen. Das ist allerdings nur ein Teil dessen, was Klimaschutz verlangt.

Es bleibt als Fazit: Die Staaten können in gerichtlichen Prozessen zu mehr Klimaschutz verklagt werden, die Bevölkerung hingegen nicht. Sie muss überzeugt werden – in einem demokratischen Prozess. (Wilhelm Bergthaler, 15.4.2024)