Nichtseattle und die Wohnsituation moderner Städter: Es muss nicht immer eine Altbauwohnung in zentraler Lage sein. Der grassierende Mietwucher lädt auch zu einem Leben im Zelt ein.
Nichtseattle und die Wohnsituation moderner Stadtbewohner: Es muss nicht immer eine Altbauwohnung in zentraler Lage sein. Der grassierende Mietwucher lädt auch zu einem Leben im Zelt ein.
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Das Album nennt sich Haus und stammt von der Ostberliner Liedermacherin Katharina Kollmann. Bei Ostberlin und Liedermacherin denkt man natürlich sofort an die 1970er-Jahre und behände gezupftes oder forsch geschlagenes Liedgut auf einer aus dem berühmten Gitarrenbaukombinat Musima in Markneukirchen im schönen sächsischen Vogtland stammenden Akustikgitarre. Älteren Menschen fallen dazu die vom damaligen DDR-Regime in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgebürgerten Wolf Biermann und speziell Bettina Wegner ein. Einen unbeugbaren Humanismus und Feminismus der Letztgenannten (siehe Sind so kleine Hände oder Ach, wenn ich doch als Mann auf diese Welt gekommen wär) kann man auch Katharina Kollmann unterstellen.

Nach ihrem musikalisch kargen ersten Album Kommunistenlibido hat sie nun unter dem schönen, aus einem alten Tocotronic-Song destillierten Künstlernamen Nichtseattle für ihre neue Liedsammlung Haus musikalisch gesehen ihre Plattenbauwohnung im noch nicht gentrifizierten Teil von Prenzlauer Berg verlassen. Im Proberaum mit Band verfertigt Nichtseattle eine zurückhaltende Form von kammermusikalischem Liedermacher-Indiepop, der grundsätzlich an ihrer sehr eigen an der Gesangsmelodie ausgerichteten Baritongitarre ausgerichtet ist. Laut kann jeder: Er gewinnt seine Intensität hauptsächlich aus dem sehr schwer zu spielenden Leisespiel – und einer nur manchmal Richtung der in Friesennerz gehüllten Chansons von Element of Crime oder Grunge-light ausbrechenden Vehemenz.

"Hat er das grad wirklich gesagt? / Hat er das grad wirklich gesagt?! / Der isst in Ruhe sein Quinoa / Seine Bete, spricht von Yoga / Hört nicht auf, entspannt zu grinsen / Der und seine Bio-Beluga-Linsen!" Und weiter: "Mir verschließt sich nicht nur der Magen / Jetzt soll ich auch noch was zum Konzept Liebe sagen / Er liest so stolz Bücher von Frauen / Wird nur neue Märchen damit bauen / Von Gesundheit, Schönheit und Gesang / Der guckt, als wär Gesang hier alles, was ich kann."

Das Hipstertum ist allüberall

Das Album startet mit dem zitierten Beluga (Eigentumswohnung) und gleich auch den wesentlichen Markenzeichen Katharina Kollmanns. Mit größter Mühe durch den hochdeutschen Vortrag im Zaum gehaltene helle und schnoddrige Berliner Schnauze trifft auf eine, nun ja, wie durch kühlschrankkalte Butter schneidende analytische Lyrik. Sie setzt sich eingangs unter anderem mit den näher am Stadtzentrum beheimateten Gegebenheiten von Prenzlauer Berg oder zum Beispiel auch Wien-Neubau oder Hipster-Enklaven im südlichen Burgenland oder nördlichen Waldviertel auseinander. Auch dort wohnen Frauen und Männer, die ihr wettbewerbsorientiertes Hippietum nach dem Glauben an den freien Markt und seinen dazugehörigen Marktanteilen ausrichten. "Ich tret auf unsere Marktanteile / Schieß die weg und fahr 'ne Weile / Nachts durch meine Zuhausestadt / Die viel zu teure Dächer hat / Nachts durch meine Zuhausestadt / Die keine Ahnung von Liebe hat / Nachts durch meine Seifenblasenstadt / Die viel zu viele Zelte hat / Nachts durch meine Zuhausestadt / Die viel zu viele leere Häuser hat."

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Liebe Freunde und Freundinnen der gepflegten U-Musik, das war nur der erste Song des Albums Haus. Die Untertitel von Liedern wie Krümel noch da, Treskowallee, Schikane, In deiner Straße Bäume oder Attribute tragen allesamt Untertitel: Eigentumswohnung, Tagescafé, Zelt, Plattenbauwohnung, Altbauwohnung und Fahrgastunterstand. In ihnen wird nicht nur die einst vom Berliner Songwriterkollegen Funny van Dannen zu einem Schlagwort gebundene Liebesscheiße verhandelt. Dazu Nichtseattle: "Ich glaub, das waren wir beide / Wenn wir hier liegen, an uns noch Kreide / Mit der groß an den Wänden steht: / Ich will, dass das hier nie vergeht." Es geht in diesem Stadtrundgang durch diverse Lebensentwürfe und Lebensrealitäten auch um Mietwucher, die Zurichtungen einer aus reiner Gier bestehenden Wirtschaft, die wegbrechende Mitte und das Prekariat – sowie die ewigen Probleme mit den Müttern (und Vätern) einer eher gefühlsfern orientierten Nachkriegsgeneration: "Ich will ihr gar nichts sagen / Sie einfach nur umarmen / Doch das kann sie nicht so lang."

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Auch für soziale Utopien muss Platz sein. Immerhin handelt es sich auf dem Album Haus zwar um Leid, aber eben auch um ein privilegiertes Leiden einer Frau Ende dreißig, die natürlich auch noch Hoffnung in sich trägt. In Unterstand (Schirmpilz) heißt es: "Ich glaub, wir sind alle verwandt / Es ist der eine Unterstand / Unter den wirklich alle passen / Denn im Regen kann er wachsen." Privat leitet die Mitte der 1980er-Jahre in einem Plattenbau geborene stolze "Ostlinke" einen offenen Chor in einem Kulturzentrum namens Kulturmarkthalle. Singen schafft Gemeinschaft. Und wer in seiner Musik auch ab und zu eine Trompete einsam klagen lässt, dem fliegen die Herzen sowieso zu, mit allem Recht der Welt. (Christian Schachinger, 16.4.2024)