Die Liliputbahn im Prater gilt als Wiener Institution. Vor etwas mehr als einer Woche kam es zu einem kleinen, etwas mysteriösen Unfall.
Heribert Corn

Dem kleinen Mädchen pappt Zuckerwatte am Gaumen. Oder irgendetwas anderes Klebriges. Die Mama fingert in seinem Mund. Das Kind brüllt – zumindest wirkt es so. Aber es ist kaum zu hören. Aus dem Lautsprecher beim Kettenkarussell dröhnt Wolke 10 vom DJ-Duo HBz, dazwischen mischt sich aus einer anderen Richtung der Donauwalzer. Ein Bub hat an einem Stand eine Blockflöte gewonnen und presst seit Minuten Luft durch das Instrument. Scheinbar ohne Atempause. Plötzlich ein gellender Schrei. Irgendwo klingelt eine Glocke. Der Wurstelprater, denke ich, während ich dort stehe, ist ein Ort, an dem man den Verstand verlieren kann.

Zwischen dem Bordsteinpflaster klemmen Tschickstummel. Eine Gruppe verschleierter Frauen bahnt sich den Weg Richtung Riesenrad, ein paar Teenager essen Langos. Auf dem Boden liegt ein Pappteller mit Ketchupresten, eine Frau in Sandalen steigt direkt hinein. "Oida", ruft sie. Zeitgleich heben die Schaukelsitze des Kettenkarussells ab. Die Zöpfe eines aufgeregten Mädchens flattern im Wind. Der Prater, der ist Wien; nur völlig übersteuert. Zumindest hier auf dem Riesenradplatz.

Die Bahn zwischen den Welten

Hinter dem Wurstelprater, der eigentlich nur die Nordwestspitze des Praters füllt, liegt der grüne Prater, ein weitläufiger Park. 1766 hat der als Reformer geltende Joseph II., ein Sohn Maria Theresias, das Erholungsgebiet für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt geöffnet. Dort hört man Vögel zwitschern, es riecht nach frisch gemähtem Gras. Und zwischen diesen beiden Welten, zwischen Wurstelprater und der Parkanlage, als würden die Schienen die Grenze bilden, tuckert ein kleiner, träger Zug: die Liliputbahn.

In Wien gilt die Liliputbahn als Institution. Wienerinnen und Wiener, die ein Kind über vier haben und es noch nicht zur Liliputbahn gebracht haben, dürfen sich durchaus als Rabeneltern bezeichnen. In den vergangenen Tagen war die kleine Bahn, mit der man ein paar Stationen im Prater abklappern kann, aber nicht als Ausflugsziel in den Medien. Vielmehr wurde die Attraktion Ziel eines Verbrechens. Oder sagen wir: vielleicht. Der Fall ist etwas mysteriös.

Entgleiste und umgekippte Lok der Liliputbahn im Wiener Prater. Die Waggons blieben stehen, alle Fahrgäste und auch der Lokführer waren unverletzt.
APA/LILIS WELT IM PRATER

Sonntag, 7. April, 13.02 Uhr, Schlagzeile auf heute.at: "Schockmoment – Liliputbahn im Prater entgleist"

Sonntag, 7. April, 14.40 Uhr, Schlagzeile auf oe24.at: "Liliputbahn im Prater entgleist: Betreiber vermutet Sabotageakt"

Sonntag, 7. April, 17 Uhr, Schlagzeile auf krone.at: "Liliputbahn im Prater entgleist: Anschlag vermutet"

Mittwoch, 10. April, 13.10 Uhr, Schlagzeile auf oe24.at: "Liliputbahn in Prater entgleist – es war ein Anschlag!"

Was ist da tatsächlich passiert?

Wie bekannt die Liliputbahn ist, zeigt sich auch an der Tatsache, dass sie einen Pressesprecher hat. Wobei Philipp Pertl schon am Telefon betont hat, dass er auch für die anderen Attraktionen der Liliputbahn-Betreiberfirma Lilis Welt zuständig ist. Pertl läuft jetzt aus dem Hauptbahnhof der Liliputbahn auf die Prater-Hauptallee, wo ich warte. "Schauen wir uns das an, oder?", sagt er und deutet auf eine Fahrradrikscha.

Er meint: Wir können jetzt den Tatort besichtigen. Mit der Rikscha seien wir schneller dort, viel Zeit habe er ohnehin nicht. Seit vergangenem Sonntag wird Pertl vermutlich öfter von Journalisten kontaktiert als der Sprecher des Bundeskanzlers. Pertl ist ein freundlicher Mann und wohl auch geduldig, in seiner Freizeit leitet er eine Pfadfindergruppe. Aber was seit Sonntag vergangener Woche passiert, davon ist er zunehmend genervt. Vor allem von der Berichterstattung. "Man muss die Kirche im Dorf lassen", sagt er, steigt auf die Rikscha und deutet mir, dass ich neben ihm Platz nehmen soll.

Die Liliputbahn im Wiener Prater fährt mit 18 km/h Höchstgeschwindigkeit vier verschiedene Stationen auf einer 20-minütigen Rundfahrt ab.
Heribert Corn

Pertl tritt in die Pedale. Vor uns ist jeweils ein Lenkrad angebracht, meines lenkt aber nicht, ich sitze auf dem Kinderplatz. Während Pertl gleichzeitig Steuermann und Antrieb des Gefährts ist, referiert er die wichtigsten Informationen zur Liliputbahn: Höchstgeschwindigkeit 18 km/h, insgesamt gibt es sieben Loks, die auf schmalen Schienen kleine Waggons mit jeweils vier Sitzplätzen durch den Prater ziehen – zwei Dampfloks, vier Dieselloks, eine E-Lok, die allerdings nicht in Betrieb ist, weil die "noch nicht wirtschaftlich" sei. Der Strom ist zu teuer.

Der Tag der Sabotage

Am Sonntag, dem 7. April, habe – wie an jedem Tag, an dem die Liliputbahn in Betrieb genommen wird – um circa acht Uhr ein Mitarbeiter die Strecke inspiziert. Zuerst ging er wie immer die fast vier Kilometer lange Schienenbahn entlang: Sichtkontrolle. Dann nahm er eine Draisine und fuhr die Gleise auch ab. Sein Fazit: alles bestens, keine Behinderungen. Noch.

Um zehn Uhr stiegen die ersten Gäste in die Waggons, eine Rundfahrt dauert 20 Minuten. Es gibt vier Stationen. Der Liliput-Hauptbahnhof liegt im Wurstelprater, man kann aber auch erst später im grünen Prater zusteigen. Am Sonntag der Entgleisung waren gerade zwei Loks in Betrieb, sagt Pertl, eine dritte war in Vorbereitung. Es war einer der bisher wärmsten Tage des Jahres. Liliputbahn-Hochbetrieb.

Um kurz vor halb zwölf kam es zum Unfall. Auf der Höhe der Luftburg, eines Restaurants im Prater, gibt es einen Fußgängerübergang in den Park, der über die Gleise führt. Dort soll jemand, vermutet die Polizei, in verbrecherischer Absicht einen Eisenwinkel an den Schienen platziert haben. Die rote Liliputbahn fuhr dagegen, die Lok entgleiste. Die Waggons blieben stehen. Verletzt wurde niemand.

Anschlag? Alles falsch!

Am Unfallort ist eine kleine Delle in der Leitplanke erkennbar. "Es ist unglaublich, was für dramatische Bilder da gemalt wurden", sagt Pertl. "Alles falsch." Der Lokführer habe sich geschreckt, aber sonst sei überhaupt nichts passiert. Ein kleiner Kran hob die Lok auf die Schienen zurück. Drei Stunden später fuhr die Liliputbahn wieder im Normalbetrieb. "Ob das absichtliche Sabotage war oder nicht, weiß ich nicht", sagt Pertl. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts der schweren Sachbeschädigung und der Gefährdung der körperlichen Sicherheit gegen Unbekannte. Den oder die zu finden wird schwierig.

Der Liliput-Hauptbahnhof liegt im Wurstelprater, dann tuckert die Bahn am Schweizerhaus vorbei in den Park. Derzeit sind vor allem die Dieselloks in Betrieb.
Heribert Corn

Pertl zieht aber ohnehin eine ganz andere Lehre aus dem Vorfall: "Wir sollten alle etwas entspannter sein", sagt er. "Mit einem Anschlag, wie das genannt wurde, verbindet doch niemand eine kleine, umgekippte Lok."

Also schwingen wir uns wieder auf die Rikscha und radeln die Prater-Hauptallee zurück. Vorbei an ein paar Joggerinnen und Spaziergängern, im Park wird gemäht. Da tuckert die altrosafarbene Liliputbahn an uns vorbei. Eine der Dieselloks. Es stinkt nach dem verbrannten Öl. Pertl winkt. Ein Kind winkt zurück. Wir sollten alle etwas entspannter sein, vielleicht hat der Mann recht. (Katharina Mittelstaedt, 15.4.2024)