Wenn du nicht empört bist, passt du nicht auf: Autorin Mareike Fallwickl trägt ihre literarische Kernbotschaft auch auf der Kleidung.
Wenn du nicht empört bist, passt du nicht auf: Autorin Mareike Fallwickl trägt ihre literarische Kernbotschaft auch auf der Kleidung.
APA/BARBARA GINDL

Wer den neuen Roman von Mareike Fallwickl aufschlägt, dem zischen die feministischen Schlagworte und Diskursreferenzen nur so um die gespitzten Ohren. Da hat eine Protagonistin im Ernstfall alle "Zahlen und Statistiken" parat, "um zu belegen, dass Frauen von der Medizin benachteiligt werden", da fallen Worte wie "Heterofatalismus" und "Androzentrismus" und wird von einer anderen Figur anstelle aller Frauen beklagt, dass "wir grundsätzlich rechtelos sind, außer wir wenden unfassbar viel Energie und Zeit auf, um ein Zipfelchen Gleichberechtigung zu erwischen".

Mehrfrauenporträts vor dem Hintergrund "toxischer" Männlichkeit und ungedankter Care-Arbeit sind seit ihrem letzten Buch Die Wut, die bleibt (2022) das Spezialgebiet der 1983 geborenen Salzburger Autorin. Laut ihrem Profil auf X will sie das Patriarchat "smashen" und der Männerherrschaft "weibliche und diverse Erzählstimmen" entgegenhalten. Vom "Wissen, dass es Menschen mitten in der Gesellschaft gibt, die unsichtbar sind", handelt auch Fallwickls vierter Roman.

Bunte Achselhaare

Hauptfigur in Und alle so still ist Elin, man darf sie ein Corona-Opfer nennen: Die Schulen waren zu, um sich zu unterhalten, hat sie damals begonnen, Fotos von sich ("ihr normschöner Körper") im leeren Wellnesshotel ihrer Mutter Alma zu schießen und zu posten. Jetzt, mit 21 Jahren und 1,2 Millionen Follower später, machen die Hasskommentare sie fertig, aber sie weiß sich nicht zu helfen. Denn einsam ist sie noch immer, was auch an ihrer Mutter liegt, weil die mit Ende 50 eine Feministin von jenem Zuschnitt ist, der sich die Achselhaare färbt und meint, man muss es ohne jede Hilfe schaffen und selbst Frauen sind Feinde.

Deshalb hat Alma sich einst auch als Single in der Samenbank befruchten lassen. Auf Unabhängigkeit geschult wurde sie wiederum – was sonst, die Psychologie hat kurze Drähte! – von ihrer Mutter Iris, die einst für den Großvater ihr Medizinstudium hintangestellt hatte. Zum Dank blafft der sie jetzt, wenn sie ihre Protestfreundinnen eingeladen hat, an, sie sei seine Angestellte, habe zur Arbeit in der Praxis zu erscheinen statt zu protestieren. Weil mehr mehr ist: "Und bis dahin wäschst und bügelst du mir ein Hemd."

Frauenproteste

Der Titel stimmt insofern, als zu Beginn der 360 Seiten die Lage zwar nicht gut ist, allerdings noch keiner – respektive keine – sich laut aufregt. Damit ist jetzt aber Schluss. Iris führt einen Frauenprotest an, der sich vor dem Spital zu manifestieren beginnt, in dem ihre andere Tochter Ruth als Krankenschwester vom Personalmangel jeden Tag über die Belastungsgrenze getrieben wird (in diesen ausladenden Szenen steckt merklich genaue Recherche). Ihre Tante hat Elin wie ihre Großmutter bisher nie kennengelernt: Alma hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen und den zur Schwester verloren, als die ihren behinderten Sohn aufzog. Jetzt laufen aber alle Fäden wieder zusammen.

Der Plot spielt binnen weniger Tage. Die prekäre Ausgangssituation entspricht an sich unserer Gegenwart. Aber sie eskaliert ab der Hälfte unwahrscheinlich schnell: Die Proteste schwellen an, Frauen werden von wütenden Männern attackiert, von der Polizei auf der Basis neuer Anlassgesetze inhaftiert. Im Nu steht der Zähler bei tausenden Opfern, und jetzt versteht man endlich diesen Roman: All die dick aufgetragenen, aus Alltagskleinigkeiten sofort zum Weihevollen, Kämpferischen und oft Kitschigen hochfahrenden Dialoge, all die sehr explizierten Szenen sind Fallwickl nicht leider passiert, sondern eine Übertreibung mit dem Ziel, aus dem uns geläufigen Istzustand quer durchs Chaos den Highway in eine utopische Zukunft zu bauen.

Plakativ über Skandalöses

Das argumentative Überangebot aus der Opferperspektive als Leitplanke soll uns ohne Ablenkung auf Kurs halten. Sätze wie "Ist das nicht typisch weiblich, was du getan hast? Du hast dich gekümmert" klingen trotzdem – und mögen sie wahr sein – naiv, plakativ und mehr politisch als literarisch. Andererseits sind die Zustände ja wirklich skandalös.

Es kracht in dieser Rundumbestandsaufnahme an allen Ecken. Ein Winkel ist dabei auch für Nuri reserviert. Dass der mit seiner im heutigen Wording "intersektionalen" Belastung – Migrationshintergrund, schwul, mit den gängigen Männlichkeitsbildangeboten hadert er ebenso wie er der Niedriglohnausbeutung auf dem Sattel seines Essensausliefererfahrrads nicht entkommt – der für die Frauen einzige okaye Mann im ganzen Buch ist, läuft unter programmatisch konsequent. Verunsicherte Männer: So hoch liegt die Latte eigentlich gar nicht!

Fallwickls allzu ausbuchstabiertes, angesichts der Geballtheit der anklagenden Details imposantes Epos der Geschundenen, übel Mitgespielten, Doppelt- und Dreifachbelasteten will Probleme nicht individualisieren, sondern als systemisch begreiflich machen. Die Pinselstriche werden dabei oft sehr breit. Eine solidarische Schwesternschaft mit Kompott im Keller klingt aber grundsätzlich nicht nach der übelsten aller Welten. (Michael Wurmitzer, 23.4.2024)