Ist heute Kaliningrader: Immanuel Kant (1724-1804) lebte und lehrte in Königsberg. In den Jahren der Ära Kreisky beschäftigte man sich dann doch lieber mit Wittgenstein.
Ist heute Kaliningrader: Immanuel Kant (1724–1804) lebte und lehrte in Königsberg. In den Jahren der Ära Kreisky beschäftigte man sich dann doch lieber mit Wittgenstein.
imageBROKER/Gabriele Thielmann v

Das Immanuel-Kant-Jahr hat – nach langem Anlauf – doch noch Fahrt aufgenommen. Der schmächtige Vater der modernen Vernunftkritik wäre heuer 300 Jahre alt geworden. Siehe da: Auch solche Leser, die sonst lange Schachtelsätze meiden wie KPÖ-Funktionäre die Lektüre von Das Kapital, sagen sich Kants wichtigste Sätze auf den Kopf zu. Wirklich alle wollen vom Kant-Jahr profitieren. Wer noch nicht hat, der schmökert jetzt die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Und verzehrt anschließend ein Schnitzelbrot.

Um das Prestige der Philosophie war mir schon als Babyboomer bange. Damals, in den Ausläufern der hochvernünftigen Ära Kreisky, schlug man um Kant und Konsorten eher einen Bogen. Höher im Kurs standen die knackigen Sätze eines Ludwig Wittgenstein. Da wusste man schon nach der Lektüre von ein paar Paragrafen, dass die Welt alles ist, was der Fall ist. Das war gut zu wissen.

Mein späteres Philosophiestudium fiel mit dem Anbruch der herbstlich-getragenen Ära Sinowatz zusammen: ein Zeitalter im Wandel, geplagt von Ängsten und Transformationsverlusten. Ihn, den Bundeskanzler, veranlasste die Regierungszeit zu dem Stoßseufzer, dass alles sehr kompliziert sei. Wer wäre ich gewesen, ihm darin zu widersprechen?

Rote Rose

Dem Geschäft des Denkens abspenstig machte mich eine Reihe von Unidozenten. Einer war Helvetier und pflegte Kant an Hegel zu messen. Er selbst betrieb Vernunftkritik und praktizierte Lautverschiebungen. Fragte man nach, ob der Satz "Eine Rose ist rot" ein synthetisches Urteil a priori oder a posteriori sei, kam stets dieselbe Antwort: "Jo, jo, dör bekonnte Einwond von Hö-gel!"

Ich wechselte an die Politologie. Kaum geriet ich, ein dicklicher Bub, dort mit Platon in Berührung, hieß es vonseiten des Professors: "Nicht vergessen, wir halten unser Blockseminar wieder in der Buckligen Welt ab. Turnzeug nicht vergessen! Wir haben viel vor!" Und dazu blinzelte er genießerisch den Kommilitoninnen zu.

Ich schlich leise aus dem Hörsaal. Und wurde Journalist. Unablässig sprach ich mir vor: Die Welt ist alles, was in der Zeitung steht. Immerhin musste ich nie wieder mein Turnzeug hervorholen. (Ronald Pohl, 24.4.2024)