Mehr als 100.000 Menschen haben den östlichen Teil der Stadt Rafah UN-Angaben zufolge bereits verlassen.
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Auch Drohungen aus den USA scheinen kein Einlenken zu bewirken: Israels Regierung will mit der Offensive in Rafah fortfahren. "Wir werden, wenn es sein muss, mit unseren Fingernägeln kämpfen", sagte Premier Benjamin Netanjahu in einer Videobotschaft in der Nacht auf Freitag. "Wenn wir allein dastehen müssen, werden wir allein dastehen." Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich hatte schon zuvor die "vollständige Eroberung Rafahs" gefordert. "Je früher, desto besser." US-Präsident Joe Biden hatte zuvor angekündigt, die USA würden Israel keine Waffen für eine Großoffensive in Rafah liefern.

Bisher hat die israelische Armee die Bevölkerung im Osten der mit Flüchtlingen vollkommen überfüllten Stadt zur Evakuierung aufgerufen. Viele Palästinenserinnen und Palästinenser in der Stadt stehen nun vor der Entscheidung: Zum wiederholten Mal fliehen oder bleiben?

In den vergangenen Monaten sind bereits mehr als eine Million Menschen – vor allem aus dem Norden des Gazastreifens – nach Rafah geflohen, in der zuvor nur knapp 300.000 Menschen gelebt hatten. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef befinden sich derzeit rund 600.000 Kinder dort, schon jetzt sei die überwiegende Zahl von ihnen verletzt, krank oder unterernährt. "Zehntausende Menschen, die in Rafah Zuflucht gefunden haben, kämpfen mit extremem Hunger und begrenzter Wasserversorgung", heißt es von der Hilfsorganisation Care. "Ihre Überlebenschancen sinken kontinuierlich."

Evakuierung in "humanitäre Zonen"

UN-Angaben zufolge haben nach Israels Aufruf vom Montag bereits mehr als 100.000 Menschen die Stadt verlassen, die Zahl könnte sich binnen weniger Tage auf 300.000 erhöhen. Israel sprach am Montag davon, dass sich 100.000 Menschen in der von einer Evakuierung betroffenen Zone befinden würden, Menschenrechts- und Hilfsorganisationen vor Ort gingen von mehreren Hunderttausend aus.

Laut den Flugblättern, die die Armee im Osten Rafahs abgeworfen hat, sind die Stadt Khan Younis und das Küstengebiet Al-Mawasi als "humanitäre Zonen" vorgesehen. Unicef-Sprecher James Elder bezeichnete Khan Younis im Interview mit der BBC bereits Anfang der Woche als "nur noch Schutt" – und Al-Mawasi als "Strandgebiet, quasi ohne Sanitäranlagen und ohne medizinische Versorgung".

Zelte in Al-Mawasi: Die israelische Armee rief die Bevölkerung im Osten Rafahs auf, sich dorthin zu begeben.
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"Al-Mawasi ist sehr überfüllt", schilderte der britische Arzt James Smith dem Guardian seine Eindrücke vor Ort. "Die Menschen versuchen Platz zu finden, aber es gibt keinen."

"Die Menschen werden erneut gewaltsam vertrieben und ziehen von behelfsmäßigen Zelten zu einem anderen Ort ohne angemessene Unterkünfte, Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung", sagt Aurelie Godard, Medizinische Teamleiterin von Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen. "Sie laufen Gefahr, weiter in die Tiefen einer humanitären Katastrophe abzurutschen, die bereits albtraumhafte Ausmaße angenommen hat."

Gesundheitssystem zusammengebrochen

Ärzte ohne Grenzen kritisierte auch den immer weiter eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung in einem bereits "zusammengebrochenen Gesundheitssystem". Den Menschen würden kaum Möglichkeiten bleiben, auch nur eine medizinische Grundversorgung zu erhalten.

Nach dem Evakuierungsaufruf der israelischen Armee Anfang der Woche mussten Personal sowie Patientinnen und Patienten aus dem Al-Najjar-Krankenhaus evakuiert werden. Auch das Europäische Gaza-Krankenhaus ist laut Ärzte ohne Grenzen nicht mehr zugänglich. Die Hilfsorganisation ist weiter im Indonesischen Krankenhaus in Rafah tätig, die Teams dort haben aber damit begonnen, "Patient:innen zu entlassen, bei denen dies möglich ist", wie es in einer Aussendung heißt.

"Damit mussten wir innerhalb von nur sieben Monaten nun elf Gesundheitseinrichtungen in Gaza verlassen. Dies verdeutlicht die Brutalität und Gesetzlosigkeit dieses Krieges", sagt Paulo Milanesio, Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Rafah. "Wo sollen schwangere Frauen, Kinder und Menschen mit chronischen Krankheiten auf einer kleinen Fläche wie dem Gazastreifen Hilfe suchen und sich weiter behandeln lassen?", fragt Milanesio. "Nicht zu vergessen sind die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit."

Grenzübergang als "Lebensader"

Am Dienstag gab Israel bekannt, die Kontrolle über den Grenzübergang Rafah übernommen zu haben, seither kommen keine Hilfslieferungen mehr nach Rafah. Lebensrettende Hilfslieferungen in den Gazastreifen seien damit unterbrochen, kritisiert Ärzte ohne Grenzen. Teamleiterin Godard bezeichnete den Grenzübergang Rafah als "lebenswichtigen humanitären Zugangspunkt" und "Lebensader für den gesamten Gazastreifen". "Nach sieben Monaten Krieg, der 1,7 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat, verschlimmert die Schließung des Grenzübergangs die ohnehin katastrophalen Lebensbedingungen der eingeschlossenen Menschen im Gazastreifen noch weiter."

Rafah ist laut UN-Angaben der einzige Grenzübergang, über den Treibstoff in den Gazastreifen gelangt. Ohne Treibstoff funktioniert die Stromversorgung nicht, aber auch Lebensmittel und Medikamente, die sich schon in Gaza befinden, können nicht verteilt werden. "Seit fünf Tagen ist kein Treibstoff und praktisch keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangt", sagte der leitende Unicef-Notfallkoordinator im Gazastreifen, Hamish Young, in einem Pressebriefing am Freitag. Das sei bereits jetzt ein riesiges Problem für die Bevölkerung und die Hilfsorganisationen vor Ort. "Aber wenn sich nichts ändert, könnte der Mangel an Treibstoff die humanitären Einsätze in wenigen Tagen zum Erliegen bringen", warnte Young.

Verhandlungen in Kairo

Israel sieht Rafah als die letzte Hochburg der Terrororganisation Hamas und sprach von einer gezielten "Nadelstich-Operation" im Osten Rafahs. Die israelischen Angriffe konzentrierten sich zuletzt auf die östlichen Stadtteile, die auf Anweisung der Armee am Montag evakuiert worden waren, aber auch aus anderen Teilen Rafahs wurden Angriffe gemeldet. Am Freitag hieß es, die israelische Armee habe die Hauptstraße unter ihre Kontrolle gebracht, damit haben die Bodentruppen faktisch den Ostteil Rafahs eingekesselt. Anwohner sprachen von anhaltenden Explosionen und heftigen Gefechten im Osten und Nordosten.

Auch am Freitag wurden Angriffe aus Rafah gemeldet.
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Israel will mit einer Offensive in Rafah offenbar die Hamas in den Verhandlungen um eine Waffenruhe und einen Geiseldeal unter Druck setzen. Am Montag hatte die Hamas ihre Zustimmung zu einem von Ägypten und Katar vorgelegten Vorschlag verkündet, den aber wiederum Israel ablehnte, weil er unter anderem ein Ende des Krieges beinhaltete. Einem israelischen Regierungsmitarbeiter zufolge sei die bisher letzte Verhandlungsrunde in Kairo zum Thema Waffenruhe im Gazastreifen am Donnerstagabend beendet worden. Israel werde seinen Angaben zufolge die Operation in Rafah und anderen Teilen des Gazastreifens wie geplant fortsetzen. Den Vermittlern seien die israelischen Vorbehalte gegenüber dem Vorschlag der Hamas zur Freilassung von Geiseln mitgeteilt worden.

Einem ägyptischen Medienbericht vom Donnerstag zufolge haben Delegationen der Hamas und Israels Kairo nach zweitägigen Gesprächen wieder verlassen. Die Bemühungen internationaler Vermittler sollten aber weitergehen. (Noura Maan, 10.5.2024)